Dreht Deutschland langsam durch, Armin Nassehi?
Armin Nassehi gehört zu den einflussreichen Sozialforschern des Landes. 2024 sagte er noch: „Es kann nur besser werden.“ Jetzt steht die Welt Kopf und Deutschland steckt in multiplen Krisen: Wirtschaft, Politik, Populismus. Im „MUT“-Talk mit Tijen Onaran erklärt Nassehi, warum Deutschland gerade verrückt wird – und was uns wieder zur Besinnung bringen könnte. Deutschland steht unter massivem Druck, Entscheidungen müssen unter Unsicherheitsbedingungen getroffen werden, viele gesellschaftliche Konflikte eskalieren. Auf die Frage, ob Deutschland gerade durchdrehe, antwortet Nassehi deutlich: „Ja, das muss man wahrscheinlich so sagen. Ja, Deutschland dreht tatsächlich durch“. Diese Wahrnehmung speist sich aus multiplen Krisen, die sich gegenseitig verstärken, so der Soziologe. Menschen spüren Orientierungslosigkeit, das Vertrauen in politische und wirtschaftliche Eliten schwindet. „Der große Grund, warum die Leute durchdrehen, ist: Sie haben das Gefühl, dass es keine Leute mehr gibt, die wissen, was sie tun“, so Nassehi. Und während in der Vergangenheit Streit als demokratisches Mittel zur Lösungsfindung galt, ist er heute oft destruktiv. Debatten verfestigen Gräben, statt Brücken zu bauen. Besonders kritisch betrachtet Nassehi die designierte politische Führung. Friedrich Merz sieht er als schwache Figur, die weder strategische noch taktische Stärke besitze. „Er macht nicht den Eindruck, als hätte er die Dinge professionell in der Hand.“ Statt mit Souveränität und Sachverstand zu überzeugen, kopiere er bisweilen den Stil und das Vorgehen der AfD, so Nassehis Vorwurf. Er legt nach: „Es fehlt Merz an Handwerkszeug – darüber muss man sich Sorgen machen“.Armin Nassehi sieht die deutschen Erwartungen an Politiker als widersprüchlich. Olaf Scholz habe zu viel geschwiegen, Robert Habeck viel erklärt und Friedrich Merz wirke entschlossen, scheitere aber an mangelnder Strategie. Boris Pistorius hingegen überzeuge durch klare Worte und das Gefühl von Kontrolle. „Bei Frau Weidel fällt es mir sehr schwer, ruhig zu argumentieren. Ein ganz fürchterlicher Stil“, sagt Nassehi und erklärt, warum Stilfragen heute oft entscheidender sind als Inhalte – das zeige auch der Erfolg von Trump. Den Erfolg der AfD erklärt Nassehi auch damit, dass sie vor allem im Osten die einzige Partei sei, die wirklich „vor Ort ist“. Der Versuch, sie argumentativ zu widerlegen, sei aber wirkungslos: „Es hilft nicht, gegen die AfD zu argumentieren – es hilft nur, die Dinge im Griff zu haben.“ Nassehi ist überzeugt: „Die Menschen lassen die AfD erst rechts liegen, wenn sie das Gefühl haben, dass Kompetenz da ist“.Auch in der Wirtschaft sieht Nassehi ein strukturelles Problem. Deutschland sei zu träge, festgefahren in alten Denkweisen und kulturellen Prägungen. „Kulturelle Prägungen sind viel mächtiger als jedes gute Argument.“ Ein Wandel sei notwendig, doch dieser lasse sich nicht durch bloße Appelle herbeiführen – Veränderungen müssten praktisch erfahrbar sein. Wenn sich die wirtschaftliche Lage bessere, würden viele Debatten versiegen: „Wenn die Kassen wieder voll sind, kümmert man sich nicht mehr um diese Dinge.“ Ob sich die Situation 2025 zum Besseren wendet, bleibt für Nassehi offen. „Ich hoffe es, die Zeichen stehen aber nicht unbedingt dafür, dass es sich sofort erfüllt.“ Vielleicht werde es mehr Klarheit geben, vielleicht könnten einige Krisen entschärft werden. Doch solange grundlegende Probleme ungelöst bleiben, werde Deutschland weiter mit sich selbst kämpfen.